COS I’M FREE

Eine Geschichte, die Mut machen soll:

Die Olympischen Spiele 2000 waren etwas Besonderes. Weil sie 2000 stattfanden, weil sie erstmals am anderen Ende der Welt stattfanden, und weil sie von ALLEN Aussies getragen wurden. Die ganze Nation war stolz dieses Ereignis bei sich zu haben, und eine unglaubliche Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern, jung und alt, arm und reich, hat in einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß als Freiwillige mitgearbeitet, um diese Spiele zu einem Erfolg werden zu lassen.

Ich war ein paar Jahre später im Stadion von Sydney, und davor sind Stelen aufgestellt mit den Namen aller, die daran mitgebaut und während der Spiele mitgearbeitet haben. Es müssen so ziemlich alle 20 Millionen Australier gewesen sein.

Die Eröffnungszeremonie war bewegend: ich denke wirklich, dass die Spiele dort der Höhepunkt der Olympiaden waren. Man hat auch in Atlanta und in Peking Millionen Freiwillige mitmachen lassen, und die waren sicher auch aus Begeisterung dabei, aber nach Sydney hat die Euphorie nie mehr so unschuldig und absolut echt und authentisch gewirkt.

Die Flamme, die einmal um die Welt getragen worden war, wurde von einer 1,65m kleinen, zierlichen, farbigen Frau zum Entzünden des Olympischen Feuers getragen, die einen spektakulären Einteiler anhatte:


 

Das war Catherine Freeman, von allen Cathy genannt. Australien hatte damals auch den besten Schwimmer der Welt, der die Medaillen nach Belieben abräumte, aber irgendwie ging es für die Aussies von Anfang an nur um eines: würde Cathy siegen? Sie war auf den 400 Metern die Beste ihrer Zeit, es gab eigentlich nur eine Konkurrentin, eine Französin. Dieses Duell nahm medial im Vorhinein solche Ausmaße an, dass Mme. Pérec wenige Tage vor DEM RENNEN völlig entnervt das Handtuch warf und die Flucht in ihre Heimat ergriff. Sie reiste tatsächlich ab, die genaueren Ursachen wurden nie geklärt. Man sprach davon, dass ein zehn Stockwerke hohes Graffitti-Bild des Gesichts ihrer Gegnerin, das sie auf einer Feuermauer von ihrem Hotel aus sah, ihr den Rest gegeben hatte. Doch dieses Gesicht war überall: in den Zeitungen, auf Plakatwänden, auf Bussen und auf Straßenbahnen. Es war das Gesicht dieser Olympischen Spiele geworden.

Der große Tag war gekommen, und ein Kontinent stand still. Das Stadion in Sydney mit seinen 110.000 (!) Plätzen war praktisch seit seiner Fertigstellung für diesen Tag ausgebucht. Cathy Freeman hatte sich in zwei Vorrundenläufen qualifizieren müssen, die sie gewonnen hatte. 1996 war sie in Atlanta über die 400 Meter hinter Pérec Zweite geworden, danach zweimal Weltmeisterin. Nun war ihr Moment gekommen, unsterblich zu werden. In weniger als 50 Sekunden musste es sich entscheiden.

Als die Läuferinnen in die Starthocke gingen, wurde es im Stadion totenstill, und das wurde es im ganzen riesigen Land, vor Millionen TV-Geräten und Radios in Wohnungen, Pubs und Büros. Während bei anderen Bewerben im selben Stadion gleichzeitig stab-, hoch oder weit gesprungen oder der Diskus geworfen wurde, kam nun jede Tätigkeit zum Erliegen. Alles starrte auf Bahn sechs.

Cathy Freeman lief an diesem Tag nicht um eine Medaille. Es ging auch nicht um Gold oder nicht Gold. Es ging um mehr, um alles. Cathy Freeman gehörte gleich mehreren benachteiligten Bevölkerungsgruppen an: sie war eine Frau, sie war eine Aborigine, und sie wollte für eine Minderheits-Partei ins Parlament. Vor allem die Tatsache, den Eingeborenen anzugehören, von denen bis auf eine Tennisspielerin noch nie jemand sportlich erfolgreich gewesen war (und denen sehr viele Australier das auch nicht zutrauten), machte sie für alle Aborigines zur Identifikationsfigur und zur Hoffnungsträgerin. Ihr Vater war an Alkoholismus gestorben, die Mutter hatte sie unter großen Opfern ausbilden lassen; in ihrer feinen Mädchenschule, für die sie ein Stipendium geschafft hatte, war sie unter 600 Mädchen eines von drei schwarzen gewesen.

Die Rivalität mit Pérec, eine eben erst nicht friedlich beendete Scheidung (ihr Mann war ihr Manager gewesen), der Rummel, den die Medien daraus gemacht hatten, all das hatte ihr zugesetzt. Aber nun musste sie auch noch beweisen, dass sie die Hoffnungen eines ganzen Volkes nicht enttäuschen würde. Zweier Völker, eigentlich. Denn sie hatte das Feuer entzündet. Und sie lief zu Hause, vor ihren Landsleuten, down under. Vor den Augen ihrer Mutter und unter der Flamme, die sie entzündet hatte.

Jemand hatte damals geschrieben, dass eine Abfahrt auf der Streif eines Lokalmatadors, dass jeder Elfmeter in der letzten Minute eines entscheidenden Fussballspiels wie ein milder Scherz nicht einmal ansatzweise mit dem Druck verglichen werden kann, der auf den schmalen Schultern der zarten jungen Frau lastete. Es ist nicht leicht, hier keinen Satz niederzuschreiben, in dem die Wörter “Nerven” und “Drahtseile” vorkommen.

400 Meter, die längste Sprintdistanz, das ist eine Runde in einem Stadion, die weltbesten Frauen laufen sowas unter 50 Sekunden. Jeder Schritt muss sitzen und jeder Schritt beinhaltet das totale Risiko. Wie oft hatte man Fehlstarts, ein Kollidieren oder ein Straucheln in der Kurve gesehen, einen Fehltritt mit Folgen.

Als die Läuferinnen vor dem Start vom Platzsprecher benannt wurden, war ein Hexenkessel ausgebrochen bei Cathy Freemans Namen. Zigtausende Fotoapparate blitzten, und die Menge tobte. Die Fahne der Aborigines, das wusste Cathy, war vorbereitet, für die Ehrenrunde nach dem Sieg. Wenn sie als erste australische schwarze Sportlerin Gold gewonnen haben würde. Dann kam die Hocke. Dann wurde es still.

Der Start klappte im ersten Anlauf, und im selben Moment, im Augenblick des Schusses, stand das Stadion Kopf, und abgebrühte Moderatoren verloren ihre Fassung. Acht junge Frauen rasten einmal im Kreis, und in ihrer Mitte war eine, die als einzige einen Einteiler trug, grün-weiß, mit Kapuze, als wollte sie sich verstecken können vor einer ganzen Welt voller unerfüllbarer Erwartungen. Nach drei Vierteln der Strecke war Cathy etwa gleichauf mit einer Jamaicanerin, und auf den letzten hundert Metern nahm sie ihr, niemand konnte das fassen, sechs oder sieben Meter ab. 49,11, kein Weltrekord aber Jahresbestleistung, und das war auch völlig egal.

Freeman war zum Stehen gekommen, nun sie ließ sich fallen. Sie setzte sich auf die Rennbahn, nahm die Kapuze ab und zog die Schuhe aus, während ihre Konkurrentinnen ihr gratulierten, aber nur kurz, die wussten auch, was da jemand gerade geleistet hatte. “Ich war gar nicht traurig”, sollte Cathy Freeman später sagen über diese Ewigkeit, in der sie auf dem Boden saß und zu realisieren begann, was passiert war. Und sie blieb ewig lange einfach sitzen, 81 Sekunden, fast eineinhalb Minuten, in denen einhundertzehntausend Menschen ausflippten vor Ort und Millionen irgendwo anders im Lande oder auf der Welt. Keine Tränen, nur eine ernste Miene.

Dann stand sie auf. Dann kam das erste Lächeln. Sie holte aus dem Publikum die beiden Fahnen, die australische und die andere, die ihres Volkes. Als sie so, barfuß, ihre Ehrenrunde begann, stieß sie mit einem Fotografen zusammen, einem aus einem Rudel, die ihr auf den Leib rückten um das Bild ihres Lebens zu schießen, und bevor sie sich aufmachte auf ihren Triumphweg versicherte sie sich noch, dass dem nichts zugestoßen war. Als sie am Ende der Ehrenrunde ihre Mutter umarmte, wusste sie, dass sie angekommen war. Sie war unsterblich geworden.

Unter diesem Einteiler, auf ihren Oberarm, hatte sie sich unter die Haut brennen lassen, worum es ihr ging:

“COS I´M FREE”.

 

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