Ein Optimist ist ein Pessimist, der (noch) nicht alt genug ist. Es ist zu spät, um Pessimist zu sein. Yann Arthus-Bertrand Eine Reise von Shanghai über den Yangtse nach Xian und Peking
Als ich erwachte, war unter uns das Himalaya-Gebirge zu sehen. Wir waren von Dubai unterwegs nach Shanghai. Die Sonne ging gerade auf, und die Berge des ewigen Schnees glühten fiebrig rot. Aus den höchsten Bergen der Erde wurden die größten Wüsten, bevor sich die Wolkendecke wieder schloss. Dann war der Ferne Osten erreicht. Wir landeten in Shanghai.
Der Transrapid brachte uns mit einer Höchstgeschwindigkeit von 431 km/h in die Stadt. Der Bus, in den wir unser Gepäck geladen hatten, war acht Minuten später auch da; die 400 km/h hatten nur eine Minute gedauert, zwischen Beschleunigen und Abbremsen.
Shanghai war vor siebzig jahren noch berüchtigt für seine Opiumhöhlen, seine Spielhöllen und seine Bordelle. Vor etwas mehr als hundert Jahren war einer der hieß wie ich schon dagewesen – als Kriegsberichterstatter während des Boxeraufstands. Sein China-Buch nannte er „Aus dem Lande der Verdammnis“. Ich war gewarnt.
Heute ist Shanghai, die modernste Stadt Chinas mit ihren fast 4.000 Wolkenkratzern, das Les Jeux Sont Faits des Wandels. Hier, mehr als sonstwo im Reich der Mitte, hat der Turbokapitalismus seine Triumphe gefeiert und damit gerade erst begonnen. Die Nanjing Road ist nachts ein Pendant zu Broadway und Times Square, und die Hunderttausend, die hier Nacht für Nacht sich, ihre Limousinen und Sportwagen, ihre Smartphones und Gold Cards feiern, haben eher noch mehr Selbstbewußtsein als die verwöhnten Töchter und Söhne des Glücks in Manhattan – und das will etwas heißen.
Für Europäer, die aufgehört haben jung zu sein, ist die Nanjing Road ein Jungbrunnen: so oft wurde ich noch nie angesprochen, und sicher noch nie von so vielen ausgesprochenen Schönheiten. Zwei Rolex kriegt man um 12,- €uro, wie hoch der Kurs für Liebe steht, kann ich nicht sagen.
Prostitution ist in China offiziell verboten, aber Reichwerden ist auch offiziell erwünscht, also wird angeschafft – ohne Zuhälter, einfach um Geld zu verdienen; das wird geduldet.
Von Shanghai fuhren wir mit einem supermodernen Zug nach Wuhan. In der Innenstadt – dem geografischen Stadtgebiet – leben 4,2 Millionen Menschen. Bald danach schifften wir uns für eine Flusskreuzfahrt auf dem Yangtse ein. Wir besuchten den größten Staudamm der Welt, durchfuhren die Drei Schluchten und gingen in Chongqing wieder an Land. Wenn ausschließlich die administrativen Stadtgrenzen herangezogen werden, ist Chongqing die größte Stadt der Welt: 28,6 Millionen…
Wir flogen nach Xiang, wo die Seidenstraße endete, und wo heute die 2.200 Jahre alten Terrakottakrieger Besucher aus aller Welt anziehen. Dann waren wir in Peking, unternahmen einen Ausflug zur Großen Mauer und hörten nicht auf zu staunen.
Ja, China ist eines der Abenteuer unserer Zeit; es ist ein endlos faszinierendes Universum, ein Reich mit einigen der ganz großen Eindruecke der Erde, ein Land aber vor allem, das aus dem besteht, was den Reichtum aller Nationen ausmacht: seinen Menschen. Und das ist das Problem.
Nach meiner Reise durch Südindien habe ich 2010 Paul Theroux zitiert. Darauf läuft es hinaus: irgendwann wird es zu viel. Man muss nicht Platons Idee von der idealen Stadt nachweinen, die nicht mehr als 10.000 Menschen haben sollte, weil sonst das menschliche Maß verloren geht. Aber in China wie in Indien, in Mexico City wie in Kairo geht die Gewissheit verloren, dass jedes einzelne Leben etwas Besonderes, einzigartig und uneingeschränkt wertvoll ist. An Orten wie vor dem Bahnhof von Xian, am Anfang oder Ende der Seidenstraße, je nachdem wie man es betrachtet, in diesen Tausendschaften von Wanderarbeitern, die sich drängen um jede Handbreit Raum, hört das Individuum auf, und die Masse beginnt.
Dennoch: man kann nur den Hut ziehen vor so vielem, was China in so kurzer Zeit geschafft hat. Die Halbierung der Armut, das Ende der Hungersnöte, das sind Errungenschaften, die so viele Staaten mit kleineren Herausforderungen nicht in Ansätzen erreicht haben.
Das beste – und ambivalenteste – Beispiel ist die Geburtenrate: hätte China nicht vor einer Generation, also 30 Jahren, die Ein-Kind-Politik durchgesetzt, sie wären heute zwei Milliarden. So gibt es erst 1.300 Millionen. Armin Berg sagt in Torbergs Tante Jolesch: „ Es gibt 500 Millionen Chinesen auf der Welt und nur 15 Millionen Juden. Wieso sieht man in Ischl nicht einen Chinesen?“
Das hat sich, die Juden betreffend, geändert, und das wird sich, die Chinesen betreffend, sehr bald ändern. Doch diese angeordnete Geburtenkontrolle hat Konsequenzen: 84% der 14-jaehrigen jungen Chinesen sind nicht bereit, ihr Pausenbrot zu teilen. Eine Generation verwöhnter Prinzessinnen und Prinzen wächst heran, vor allem Prinzen. 2050 wird es, weil ‘Eltern’ immer noch weibliche Föten abtreiben, da Töchter Geld kosten und Söhne Geld bringen, um 100 Millionen mehr Männer als Frauen geben. Eine rapide Zunahme der Homosexualität wird eine der geringfügigeren Konsequenzen auf sozialem Sektor sein.
Dann das mit dem Glauben: es gibt noch Buddhisten, Taoisten, Anhänger Konfuzius’, Moslems und Christen in China, aber eine Milliarde glaubt nicht mehr, hat das Hoffen auf das Heilige, das Numinose aufgegeben, abgestreift . Mir haben Ratzinger und fast alle seine Vorgänger den Glauben aus der Seele geprügelt, wahrhaftig. An mich glaubt Gott nicht mehr. Ich weiß jedoch um die Schwere des Verlusts, und ich denke, wenn ein ganzes Volk seine Religiosität an der Garderobe abgibt, dass etwas verloren geht, das unwiederbringlich ist. Und ich behaupte, dass die großartigsten Komponenten unseres Erbes aus einem Umfeld kommen, in dem noch geglaubt werden konnte.
Eine Religion freilich gibt es, o China, du Land des verlorenen Lächelns: im Alten Testament wurde davor gewarnt, angesichts des Goldenen Kalbes. Diese Gier ist es, die China schwierig macht, wenn man nicht uneingeschränkt wachstumsgläubig ist. Ob der Nationalismus auf Dauer unter Kontrolle gehalten werden kann, die 56 Minderheiten mit der übergroßen Mehrheit der Han-Chinesen in einem Land leben können, das wird sich weisen. Ob jedoch das Land mit den Menschen, die Erde mit uns leben kann, das ist eine Frage, die man stellen dürfen muss.
Soll man China bereisen? Haben wir noch das Recht, dutzende Tonnen von CO2 pro Person zu verursachen, um ans andere Ende der Welt zu gelangen? Was haben wir dort eigentlich verloren? Vielleicht sind das Fragen, die ein Reiseleiter und Extremvielflieger nicht stellen sollte, aber ich tue es. “Elitär” wird hoffentlich bald eine Bedeutung erlangen, die mit Verzicht zu tun haben wird.
Und weiter: unterstützt nicht jeder Besucher Chinas (es sind noch nicht so viele, nur zweieinhalb Mal die Zahl jener, die Österreich besuchen) ein Regime, das die Menschenrechte mit Füßen tritt, das unsere gemeinsame ökologische und ökonomische Zukunft mit lockerer Hand aufs Spiel setzt? Das muss jeder für sich beantworten. Vom touristischen Standpunkt: China kann enttäuschen. Ein pragmatischer Zugang zur Vergangenheit und die Verwüstungen der letzten hundertzwanzig Jahre haben nicht viel übriggelassen vom kulturellen Erbe. Altes ist selten in diesem Land der ältesten bestehenden Zivilsation. Es ist auch ein Land unter Schock: die Alten in China haben in einem Leben mehr an fundamentalen Veränderungen erlitten als Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg. Die Brutalität des Wandels, wohlweislich zuerst verschuldet durch den Westen und Japan, hat Spuren hinterlassen, auch in der Psyche eines Volkes, das Kaiserreich und Kolonialismus, Bürgerkrieg und Kommunismus, Kulturrevolution und Turbokapitalismus in wenigen Jahrzehnten über sich ergehen lassen musste, eine Gehirnwäsche pro Jahrzehnt.
Die Landschaften abseits der grossen Leere, abseits der höchsten Gebirge der Erde und der größten Wüsten, sie sind verwüstet. Die Städte sind Megalopolen geworden, die absurd sind, 20-, 30-Millionen-Haufen von berückender Häßlichkeit, Architektur aus dem Bauch von Architekten, wo Bauen zu Diarrhoe geworden ist. Der Dreck ist unbeschreiblich, der grosse Yangtse eine Kloake, beim Drei-Schluchten-Staudamm fliegt kein Vogel mehr und schwimmt kein Fisch, und drunter müssen Millionen und Abermillionen sich darauf verlassen, dass das Schlimmste schon passiert ist mit dem Bau des Dammes, der bereits Risse aufweist, der Millionen heimatlos gemacht hat und die Natur hilf-, fassungs- und hoffnungslos.
Thomas Maurer beschreibt in seinem vorletzten, durchaus genialen Kabarettprogramm “Audilí”, das innehalten lässt im Lachen, wie Fengdu, eine Stadt mit 100.000 Einwohnern, abgerissen und auf der anderen Flussseite neu aufgebaut wurde im Laufe einiger Monate. Macht euch die Erde untertan? Man kann es auch übertreiben. Der Untertan schlägt zurück:
Als ich über die Mauer von Xian spazierte, 14 Kilometer lang, an jenem Ausgangs- oder Endpunkt der Seidenstraße, ging in Japan die Sonne unter, für viele für immer.
Haben wir noch eine Partnerschaft mit der Erde? Ist unser Hunger, ist unsere Gier nach dem, was wir ‘Energie’ nennen, noch stillbar?
Doch wo soll China seine Energie ‘gewinnen’? Alle fünf Tage wird ein Kohlekraftwerk eröffnet, siebenundzwanzig Atomkraftwerke sind in Bau, 60 geplant, Dämme wie den der Drei Schluchten kann man keine mehr bauen. Ist da noch etwas zu gewinnen? Alle Formen der Energiegewinnung tragen den Keim des Untergangs in sich oder gehen zu Ende, und in chinesischen Dimensionen werden solche Perspektiven zu Ahnungen der Apokalypse.
Die Chinesen haben, so dachte ich lange, das Recht, die selben Fehler zu begehen wie wir. Vielleicht. Aber das wird dann eine endenwollende Entwicklung. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Doch hier wird Sturm gesät.
Diese zwei Wochen waren auch großartig – neben allem was wir gesehen und bestaunt haben: ich habe Freunde gefunden, ach, Viviane, du hast mich ahnen lassen, wie süß Shanghai einmal gewesen sein muss. Und Huang und Christine, John, Wang und Mo, ihr bleibt ein Teil von mir, und ich einer von euch.
Kann ein Fremder China überhaupt verstehen? Darf er es eigentlich versuchen? Wie lange braucht man dafür?
Ich habe nur einen Blick in dieses Reich der schiefen Mitte werfen können, einen Blick, der nicht länger dauerte als der Flügelschlag einer Libelle. Aber ich glaube, dass ich etwas von China verstanden habe. Und dass ich etwas von seiner und unserer Zukunft gesehen habe. Ich glaube. Ich fürchte.
Xian, Beijing, Dubai, Wien, 10.-15.03.MMXI